Unser spezielles Thema heute steht in allen Zeitungen und findet auf allen Kanälen Verbreitung: Corona. Sind wir da über Nacht reichlich unvorbereitet in einer vermeintlich ganz anderen Wirklichkeit angekommen? Ich denke, die Corona-Pandemie mit all ihren Auswirkungen offenbart uns eher einen wesentlichen Teil der wirklichen Wirklichkeit. So sieht es aus, wenn menschliche Konstrukte platzen und der Machbarkeits-Übermut an seine Grenzen kommt. Plötzlich sind wir einer ganz radikalen Hilfslosigkeit ausgeliefert. Außerdem: Wir üben derzeit notwendigerweise einen Sozial-Abstand von 1,50 -2,00 Meter ein. Die Hermeneutik (wir haben über diese Kommunikationstheorie gesprochen, „Roter und blauer Kerl“) lehrt, dass wir auf der Verstehensebene Lichtjahre von einander entfernt sind. Wir können uns, wenn überhaupt, nur mit großer Anstrengung verstehen. Unabhängig von Corona sind wir einer ganz existenziellen Einsamkeit ausgesetzt. Das kann uns augenblicklich wieder etwas bewusster werden. Wohin nun mit dieser ganz konkret erlebten Hilflosigkeit und tiefen Einsamkeit? Alles in uns schreit doch nach Verbundenheit und Zugehörigkeit!
Diese paradoxe Befindlichkeit kann ich eher aushalten und sogar konstruktiv ausgestalten in der Annahme, dass es diese ultimative Zugehörigkeit und Gemeinschaftlichkeit gibt, und dass wir mit der ganzen Schöpfung dorthin auf dem Weg sind. Diese glaubende Gewissheit setzt Gestaltungskräfte frei und beflügelt die Selbstwirksamkeit. Der Hirnforscher Gerald Hüther benennt in seinem Buch „Würde“ als Grundvoraussetzung für das Empfinden von eigener Würde die Erfahrung von unbedingter Zugehörigkeit und der sich daraus ergebenden Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Genau diese unbedingte Zugehörigkeit, mehr noch, dieses unbedingte Geliebt-Sein hat uns Jesus vorgelebt und uns zu dieser Grundhaltung eingeladen. Es ist eine Gnade, wenn wir diese erlösende und heilende Wirklichkeit als unsere all-liebende Mutter und als unseren all-liebenden Vater glauben dürfen und können.
Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen haben wir an unserem letzten Veranstaltungsabend in unserer theologischen Werkstatt am und mit dem „Vater unser“ gearbeitet. Unser Werkstattpapier sei hier zum Nach-Meditieren abgedruckt (in Schwarz, die „Vater-unser“-Version nach Lukas, in kursiv, unsere Aktualisierungsimpulse):
Wenn ihr betet, so sprecht:
Vater und Mutter, geheiligt werde dein/euer Name, auch durch unser Verhalten, das deine/eure Liebe aufleuchten lässt. Dein/euer Reich komme.
Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen! Und hilf uns, die Erde lebenswert zu erhalten, damit sie auch die künftigen Generationen ernähren kann.
Und erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.
Gib, dass jeder Mensch seine Würde spürt!
Und führe uns nicht in Versuchung , sondern befähige uns zu Hingabe und Liebe!
(alternativ: Führe uns in der Versuchung und befähige uns zu Hingabe und Liebe!)
Vater und Mutter sagen zu dürfen, ändert alles. Es ermutigt und befähigt zu einem Leben in Würde.
Wir sehen uns bald wieder in unserer „Werkstatt - Bibel & Leben“.
Behüt´ euch Gott und ein herzliches Schalom, euer Bernhard Baumann
(Bild: Edvard Munch - Melancholy / gemeinfrei)